Märchentexte
Das Gesicht im Spiegel
China
Schau in irgendeinen Spiegel: Was siehst du? Natürlich dein eigenes Gesicht und du weisst, dass es deines ist. Aber was würdest du denken, wenn du noch nie zuvor in deinem Leben einen Spiegel gesehen hättest?
Vor langer, langer Zeit lebte ein Mann, der den einzigen Spiegel auf der ganzen Welt besass. Woher er ihn hatte, weiss niemand, aber von diesem Tag an war er nie wieder glücklich, denn der Spiegel erzählte Lügengeschichten. Immer und immer wieder erzählte er ihm, er sei älter geworden. Dabei wusste er, dass dies nicht stimmte. Er konnte zwar sehen, wie seine Freunde älter wurden, aber er selber war noch der gleiche junge Mann wie immer - oder etwa nicht? Der Spiegel jedoch zeigte ihm jedes Mal, wenn er hineinschaute, ein neues graues Haar oder eine neue Falte.
Da schloss der Mann den Spiegel in eine alte Zinnkiste und schaute ihn nie wieder an. Aber wie alle Menschen wurde er trotzdem älter. Und wie alle alten Menschen starb er zuletzt.
Als der Sohn einige Tage später die Hinterlassenschaft seines Vaters ordnete, entdeckte er dabei auch die alte Zinnkiste. Er öffnete sie und sah hinein. Aber was erblickte er?
Er sah in den Spiegel, den niemand zuvor je gesehen hatte, und rief erstaunt: „Es ist ein Bild meines Vaters als junger Mann! Wie überrascht er aussieht, dass ich sein Gemälde hier finde!" Dann seufzte er und dachte traurig: „Ach Vater, wie ich dich vermisse!" Und Wunder über Wunder! Das Gesicht im Spiegel schaute ihn plötzlich genauso traurig an. "Das sieht ja fast so aus", sagte der Sohn, „als ob Tränen über die Wangen meines Vaters fliessen."
Jedes Mal, wenn er die alte Zinnkiste öffnete, schien das Gesicht seines Vaters seine eigenen Gefühle widerzuspiegeln, sei es sein Lächeln, seine Tränen oder seine Nachdenklichkeit. Er gab jedoch Acht, dieses Geheimnis zu wahren, vor allem vor seiner Frau. Wenn er ihr von dem magischen Bild erzählt hätte, wäre sie mit dieser Neuigkeit sofort zu ihrer Mutter gelaufen. Dann hätte es bald die ganze Stadt gewusst und jeder wäre gekommen, um einen Blick auf das Bild zu werfen.
Eines Tages aber geschah es, dass seine Frau überraschend das Zimmer betrat. „Was ist das?", fragte sie neugierig. Der junge Mann schloss schnell den Deckel: „Es ist nur ein Bild meines Vaters als junger Mann, das interessiert dich nicht."
Aber es interessierte sie doch. So schlich sie eines Tages, als ihr Ehemann ausgegangen war, heimlich in das Zimmer und öffnete die alte Zinnkiste. Und was sah sie? Sie sah ihr eigenes Spiegelbild. „Oh!", rief sie. „Er bewahrt das Bild einer anderen Frau auf!" Sie brach in Tränen aus und schluchzte und weinte und jammerte so laut, bis ihre Mutter angelaufen kam, um zu sehen, was denn los sei. „Er liebt eine andere Frau!", weinte die Gattin. „Sicher nicht!", sagte die Mutter. „Oh doch! Er bewahrt ihr Bild in dieser alten Zinnkiste! Sieh nach!" Langsam öffnete ihre Mutter den Deckel. Und was sah sie? Sie sah ihr eigenes Spiegelbild.
„Diesen alten Haken kann er nicht lieben!", schrie sie, „die ist ja älter als ich!" „Warum also hat er mich belogen?", rief die Gattin. „Er sagte mir, es sei ein Bild seines Vaters!"
Armer junger Mann! Als er nach Hause kam, stürzten sich sowohl seine Ehefrau als auch seine Schwiegermutter auf ihn. Beide sprachen gleichzeitig, und so dauerte es eine Weile, bis er merkte, dass sie über das Bild in der alten Zinnkiste sprachen. „Das?", rief er. „Was führt ihr euch so auf? Es ist nur ein Bild meines Vaters als junger Mann!" „Ohhhh! Wie kannst du so etwas behaupten, wenn wir die Wahrheit selber sehen können?"
Und dann begannen alle von vorne: „Ein junger Mann!" „Eine junge Frau!" „Eine alte Frau!"
Und jedes Mal, wenn einer von ihnen in den Spiegel schaute, war er überzeugt, dass er recht hatte und die anderen sich irrten. Und so schrieen sie immer lauter, bis eine freundliche Stimme vom Fenster her fragte: „Was treibt ihr hier, was macht ihr für ein Geschrei?"
Ein kleiner, alter Mann stand da und schaute herein. „Wie traurig wäre mein alter Freund, wenn er sehen könnte, wie laut sich seine Familie hier streitet!" „Sie sind ein alter Freund meines Vaters!", rief der junge Mann. „Sie erinnern sich sicher daran, wie er aussah, als er jung war, nicht wahr?" „Aber natürlich! Darf ich sehen?"
Der alte Mann nahm die Kiste und schaute hinein. Und was sah er? Er sah sein eigenes Spiegelbild.
Er lächelte: „Oh ja, das ist ein Bild meines alten Freundes, aber nicht als junger Mann. Es muss gegen Ende seines Lebens gemalt worden sein. Er lächelt, und das bringt so glückliche Erinnerungen zurück!"
„Dann behalte es!", schrie der junge Mann. „Behalte es und erinnere dich dadurch an ihn!" „Ja, ja!", stimmten die Frau und ihre Mutter zu. „Wir wollen es nicht. Nimm es mit!"
„Danke, ich nehme es gerne", sagte der alte Mann freudig. Er nahm den Spiegel mit nach Hause, und für den Rest seiner Tage erblickte er darin nichts als Glück.
Aus: Geschichten aus Nah und Fern, Maggie Pearson, Kindermann Verlag
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchen.ch.
Bild von Djamila Jaenicke
Der verzauberte Apfelbaum
Flandern
Es war einmal eine alte Frau, die hiess Elend.
Sie besass nichts als einen Apfelbaum, und auch dieser Apfelbaum machte ihr mehr Kummer als Freude. Wenn die Äpfel reif waren, kamen die Lausbuben aus dem Dorf und stahlen sie alle vom Baum.
Das ging so Jahr für Jahr, bis eines Tages ein alter Mann mit einem langen weissen Bart an Elends Tür klopfte.
«Liebe Frau“, bat er, «gib mir ein Stückchen Brot.“
«Du bist auch eine armselige Kreatur“, sagte Elend. «Hier ist ein halber Laib Brot, nimm ihn, mehr habe ich nicht. Lass ihn dir schmecken, ich hoffe, er stärkt dich ein wenig.“
«Weil du so gütig bist, hast du einen Wunsch frei“,
sagte der alte Mann.
«Ach“, seufzte Elend, «ich habe nur einen einzigen Wunsch:
Jeder, der meinen Apfelbaum berührt, soll daran kleben bleiben, bis ich ihn erlöse. Es ist einfach unerträglich, dass mir immer wieder alle Äpfel gestohlen werden.»
«Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen“, sagte der alte Mann und ging seines Weges.
Zwei Tage später ging Elend hin, um nach dem Baum zu schauen.
An seinen Ästen hingen und klebten zahllose Kinder, Dienstboten und Mütter, die gekommen waren, um ihre Kinder zu retten, Väter, die versucht hatten, ihre Frauen zu retten, zwei Papageien, die aus ihrem Käfig entflogen waren, ein Hahn, eine Gans, eine Eule, verschiedene Vögel und auch eine Ziege.
Bei diesem erstaunlichen Anblick brach Elend in lautes Gelächter aus und rieb sich vor Freude die Hände. Sie ließ sie alle noch ein Weilchen dort hängen, bevor sie sie schliesslich befreite.
Die Diebe hatten ihre Lektion gelernt und stahlen nie wieder Äpfel von ihrem Baum.
Einige Zeit war vergangen, da klopfte es eines Tages wieder an der Tür der alten Frau.
«Herein“, rief Elend.
«Was glaubst du, wer ich bin?»sagte eine Stimme. «Ich bin der Gevatter Tod. Hör zu, Mütterchen“, fuhr er fort, «du und dein alter Hund, ihr habt jetzt lange genug gelebt, ich bin gekommen, um euch beide zu holen.»
«Du bist allmächtig“, sagte Elend, «ich werde mich deinem Willen beugen. Aber erlaube mir noch einen Wunsch, bevor ich meine Sachen packe. An dem Baum dort drüben wachsen die wunderbarsten Äpfel, die du je gekostet hast. Wäre es nicht ein Jammer, wenn du gehen würdest, ohne einen einzigen Apfel zu probieren?»
«Weil du mich so freundlich bittest, werd ich mir einen holen“, sagte der Tod, und das Wasser lief ihm schon im Mund zusammen, als er zu dem Baum ging. Er kletterte in die höchsten Zweige des Baumes, um einen grossen rosigen Apfel zu pflücken, doch kaum hatte er ihn berührt, blieb er mit seiner langen knochigen Hand an dem Baum kleben. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht wieder losreissen.
«So, du alter Tyrann, da hängst du jetzt und bist ausser Gefecht“, sagte Elend.
Weil aber der Tod an dem Baum hing, starb niemand mehr. Fiel einer ins Wasser, ertrank er nicht mehr. Wurde jemand von einem Wagen überrollt, spürte er es gar nicht. Die Leute starben nicht einmal mehr, wenn man ihnen den Kopf abschlug.
Nachdem der Tod im Winter wie im Sommer und bei jedem Wetter zehn lange Jahre an dem Baum gehangen hatte, bekam die alte Frau Mitleid mit ihm und erlaubte ihm herunterzukommen, aber nur unter der Bedingung, dass sie so lange leben durfte, wie sie wollte.
Gevatter Tod ging auf den Handel ein, und das ist der Grund, weshalb die Menschen länger leben als die Spatzen und weshalb es immer Elend auf der Welt gibt und wohl auch bis in alle Ewigkeit geben wird.
Märchen aus Flandern, aus: Baummärchen, Mutabor Verlag, 2010, dort: Aus verschiedenen Quellen, z.B. unter dem gleichnamigen Titel in: Goldblatt und Silberwurzel: Alte und neue Baummärchen aus aller Welt, 1998 und " Frau Elend" siehe Märchen-Datenbank. Vergleiche auch: Von der Frau Glück, in H. Wittmann, Wo der Glücksvogel singt, Wien 2000
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchen.ch.